Notfallpsychologie

Psychische Erste Hilfe und Psychosoziale Notfallversorgung am Arbeitsplatz

Wie Unternehmen Mitarbeitende nach Krisen stärken und psychische Gesundheit am Arbeitsplatz sichern.
Psychische Erste Hilfe und Psychosoziale Notfallversorgung am Arbeitsplatz

Inhalt:

  1. Was ist Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV)?
  2. Wann ist psychische Erste Hilfe am Arbeitsplatz notwendig?
  3. Maßnahmen der psychischen Ersten Hilfe: Was kann getan werden?
  4. Grenzen der psychischen Ersten Hilfe am Arbeitsplatz
  5. Einbettung in das betriebliche Gesundheitsmanagement
  6. Aktuelle Forschung und Entwicklung: Stand der Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen
  7. Prävention: Psychische Gesundheit im Betrieb stärken
  8. Fazit

Traumatische Ereignisse wie schwere Unfälle, Gewalt, Suizide, plötzliche Todesfälle oder Naturkatastrophen können auch im Arbeitsleben auftreten. Sie betreffen nicht nur Einzelne, sondern oft ganze Teams oder Organisationen und beeinträchtigen das Sicherheitsgefühl sowie die Arbeitsfähigkeit nachhaltig. Die unmittelbaren Folgen reichen von Schock, Angst und Kontrollverlust über Rückzug, Schlafstörungen und körperliche Beschwerden bis hin zu anhaltenden Traumafolgestörungen wie einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Ohne frühzeitige Unterstützung steigt das Risiko für Chronifizierung und lange Ausfallzeiten.

Was ist Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV)?

Die Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) umfasst „die Gesamtstruktur und die Maßnahmen der Prävention sowie der kurz-, mittel- und langfristigen Versorgung im Kontext von belastenden Notfällen bzw. Einsatzsituationen“ (BBK; DIN 13050:2015-04). Sie richtet sich an alle Betroffenen (Beschäftigte, Führungskräfte, Ersthelfende, Zeugen oder Angehörige) und zielt darauf ab,  psychosozialen Belastungsfolgen vorzubeugen, sie frühzeitig zu erkennen und geeignete Unterstützung bei der Bewältigung anzubieten.

PSNV ist bewusst als psychosozialer Ansatz konzipiert, weil sie nicht nur psychologische, sondern auch soziale Aspekte einbezieht: Sie aktiviert personale Ressourcen (wie Coping-Strategien, Selbstwirksamkeit, Optimismus) und soziale Ressourcen (wie Familie, Kolleg:innen, Freundeskreis) und wirkt ergänzend oder ersetzend, wenn diese Ressourcen zeitweise fehlen oder erschöpft sind. Psychosoziale Hilfen umfassen methodisch strukturierte, alltagsnahe Unterstützungsangebote, die von der Akutintervention bis zur mittel- und langfristigen Begleitung reichen. Damit geht PSNV über eine rein psychologische Betreuung hinaus, indem sie auch praktische, soziale und arbeitsplatzbezogene Faktoren berücksichtigt.


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Maßnahmen der Psychosozialen Notfallversorgung wirken ergänzend oder substituierend im Fall des (zeitweisen) Fehlens oder Versiegens dieser Ressourcen.
BBK, 2022

Wann ist psychische Erste Hilfe am Arbeitsplatz notwendig?

Psychische Erste Hilfe ist immer dann notwendig, wenn ein Ereignis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu psychischen Beeinträchtigungen führen kann. Typische Auslöser sind:

  • Bedrohung von Leib und Leben
  • schwere Verletzungen
  • direkter Kontakt mit Schwerverletzten, Sterbenden oder Toten
  • Beobachtung oder Miterleben von Gewalt
  • plötzlicher Verlust nahestehender Personen
  • Naturkatastrophen, Brände, Überfälle, Suizide

Auch scheinbar „indirekt“ Betroffene wie Zeugen, Ersthelfende oder Führungskräfte können starke Belastungsreaktionen zeigen. Warnsignale für eine psychosoziale Krise sind unter anderem Erstarrung, Apathie, Unruhe, Aggressivität, Weinen, Rückzug oder Überforderung.

Psychische Erste Hilfe im Betrieb ist nach den Standards der DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V.) insbesondere dann angezeigt, wenn nach einem belastenden Ereignis typische Anzeichen einer akuten psychischen Belastung auftreten. Dazu gehören z. B. starke Ängste, Übererregung, Bedrohungs- oder Unsicherheitsgefühle sowie andere Belastungsreaktionen, die auf eine mögliche Traumatisierung hinweisen können. In solchen Situationen empfiehlt es sich, frühzeitig psychosoziale Unterstützung anzubieten, um eine Verschlimmerung der Symptome zu verhindern und Betroffene zu stabilisieren.


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Ziel der psychologischen Erstbetreuung ist es, die akuten Stressreaktionen (Ängste, Übererregung, Bedrohungs- und Unsicherheitserleben etc.) nicht stärker werden zu lassen und möglichst zu vermindern sowie Orientierung und Sicherheit herzustellen.
vgl. Angenendt 2014; aus DGUV Information 206-023 

Kette aus blauen und roten Büroklammern, bei der eine Büroklammer kaputt ist, so dass die Kette unterbrochen wird.

Wenn das Gefüge im Team nach einem belastenden Ereignis reißt, ist schnelle psychosoziale Unterstützung besonders wichtig.

Maßnahmen der psychischen Ersten Hilfe: Was kann getan werden?

Psychische Erste Hilfe im Betrieb folgt einem strukturierten Vorgehen, das sich an den Grundsätzen der PSNV und an Standards wie denen der DGUV orientiert:

  • Zeitnahe Kontaktaufnahme: Möglichst früh, idealerweise noch am Ereignisort, Kontakt zu Betroffenen aufnehmen.
  • Herausnahme aus dem direkten Ereignisumfeld: Schutz vor weiteren Belastungen durch Medien, Schaulustige oder Kolleginnen und Kollegen.
  • Emotionale Unterstützung: Beruhigen, zuhören, Trost spenden, Verständnis zeigen.
  • Bedürfnis- und Bedarfserhebung: Zuhören, offene Fragen stellen, ohne zu drängen; Orientierung über die nächsten Schritte geben.
  • Informationen und Formalitäten: Aufklärung über das weitere Vorgehen, ggf. Unterstützung bei der Unfallmeldung oder Information der Angehörigen.
  • Ressourcen aktivieren und Vernetzung fördern: Ermutigung zur Kontaktaufnahme mit Vertrauenspersonen; Weitervermittlung an Familie, Freunde oder professionelle Hilfe.
  • Weitervermittlung: Bei anhaltender Belastung Vermittlung in weiterführende Hilfesysteme (Betriebsarzt, Psychotherapeut:in, externe PSNV-Teams).

Die DGUV betont: „Ziel der psychologischen Erstbetreuung ist es, die akuten Stressreaktionen, wie zum Beispiel Ängste, Übererregung, Bedrohungs- und Unsicherheitserleben, nicht stärker werden zu lassen und möglichst zu vermindern. Orientierung und Sicherheit sollen hergestellt werden.“

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Grenzen der psychischen Ersten Hilfe am Arbeitsplatz

Psychische Erste Hilfe ist keine Therapie. Ihre Grenzen liegen dort, wo eine fachärztliche oder psychotherapeutische Intervention notwendig wird – etwa bei schweren, anhaltenden Symptomen, Suizidgefahr oder dem Verdacht auf Traumafolgestörungen. Ersthelfende dürfen keine Diagnosen stellen oder therapeutische Maßnahmen ergreifen. Ihre Aufgabe ist es, zu stabilisieren, zu begleiten und gegebenenfalls an weiterführende Hilfen zu vermitteln.

Einbettung in das betriebliche Gesundheitsmanagement

Die PSNV und Psychosoziale Erstversorgung sollten Teil eines umfassenden betrieblichen Versorgungskonzepts sein. Dazu gehören:

  • Gefährdungsbeurteilung: Unternehmen sind gesetzlich verpflichtet, psychische Belastungen und potenzielle Extremereignisse systematisch zu erfassen und zu bewerten (§ 5 ArbSchG).
  • Notfallpläne und Rettungsketten: Klare Abläufe für Krisenfälle, Alarmierung und Nachsorge
  • Schulungen und Prävention: Fortbildungen für Führungskräfte und Beschäftigte, Förderung einer offenen Unternehmenskultur
  • Kooperationen: Zusammenarbeit mit externen PSNV-Teams, Beratungsstellen und Unfallversicherungsträgern
  • Nachsorge: Unterstützung bei der Rückkehr in den Arbeitsalltag, ggf. Vermittlung in Therapie oder Rehabilitation
Zettel hinter einer Glasscheibe mit den Worten "Help wanted".

Nach belastenden Ereignissen ist es entscheidend, dass Mitarbeitende wissen, wo sie Unterstützung bekommen.

Aktuelle Forschung und Entwicklung: Stand der Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen

Ein aktuelles, von der DGUV gefördertes Forschungsprojekt (SRH Hochschule für Gesundheit, 2022–2025) untersucht erstmals systematisch, wie Unternehmen in Deutschland die Psychosoziale Notfallversorgung tatsächlich umsetzen. Erste Erkenntnisse zeigen:

  • Es gibt große Unterschiede zwischen Branchen und Betriebsgrößen.
  • Viele Unternehmen bieten Präventions- und Unterstützungsangebote an, aber nicht alle Beschäftigten kennen oder nutzen sie.
  • Neben internen Ersthelfenden werden zunehmend externe PSNV-Teams oder Dienstleister einbezogen.
  • Die Dunkelziffer psychischer Belastungen nach Notfällen ist hoch, weil viele Fälle nicht gemeldet werden oder keine Arbeitsunfähigkeit besteht.
  • Die Unfallversicherungsträger unterstützen Unternehmen beim Aufbau von PSNV-Strukturen und bieten im Bedarfsfall auch psychotherapeutische Versorgung an.

Das Forschungsprojekt will eine umfassende Bestandsaufnahme liefern, um die psychosoziale Notfallversorgung in Unternehmen zu verbessern und Handlungsempfehlungen für Prävention, Akut- und Nachversorgung zu entwickeln. Betroffene sind dabei nicht nur direkt Geschädigte, sondern auch Ersthelfende und Zeugen. Sobald die Ergebnisse publiziert werden, werden wir dieses wichtige Thema hier erneut aufgreifen.

Prävention: Psychische Gesundheit im Betrieb stärken

Die Förderung der psychischen Gesundheit ist ein zentraler Bestandteil moderner Unternehmensführung und Präventionsarbeit. Unternehmen haben durch die Gestaltung der Arbeitsbedingungen, der Führungskultur und der Arbeitsorganisation einen erheblichen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden ihrer Beschäftigten. Neben der gesetzlichen Verpflichtung, psychische Belastungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung systematisch zu erfassen und zu beurteilen (§ 5 ArbSchG), empfiehlt sich ein umfassendes betriebliches Gesundheitsmanagement, in dem Prävention und Gesundheitsförderung fest verankert sind.

Zentrale Ansatzpunkte der Prävention sind:

  • Arbeitsorganisation und Unternehmenskultur: Psychische Gesundheit sollte als Querschnittsthema in der gesamten Organisation verankert werden. Dazu gehören regelmäßige Gefährdungsbeurteilungen, die Integration von Gesundheitszielen in die Unternehmensstrategie und die Förderung eines offenen Umgangs mit psychischen Belastungen.
  • Gesunde Führung: Führungskräfte spielen eine Schlüsselrolle, indem sie für ein wertschätzendes Betriebsklima sorgen, Ressourcen zur Verfügung stellen und selbst als Vorbild für gesundheitsbewusstes Verhalten agieren.
  • Stärkung individueller Ressourcen: Beschäftigte profitieren von Angeboten zur Stressbewältigung, Selbstreflexion und Förderung persönlicher Ressourcen. Hilfe zur Selbsthilfe und gezielte Trainings können die Resilienz stärken.
  • Branchenspezifische Lösungen: Da sich die Belastungsfaktoren je nach Branche unterscheiden, sind passgenaue Angebote für unterschiedliche Arbeitsfelder sinnvoll.

Fazit

Psychosoziale Notfallversorgung, psychische Erste Hilfe und betriebliche Prävention sind heute unverzichtbare Bausteine einer nachhaltigen Unternehmensstrategie. Sie bieten Betroffenen nach traumatischen Ereignissen unmittelbare und niedrigschwellige Unterstützung, fördern die Stabilisierung und erleichtern den Zugang zu weiterführenden Hilfen. Gleichzeitig tragen präventive Maßnahmen dazu bei, psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen, Ressourcen zu stärken und die Resilienz der gesamten Belegschaft zu erhöhen. Unternehmen, die PSNV und Prävention in ihr Gesundheitsmanagement integrieren, erfüllen nicht nur ihre gesetzliche Fürsorgepflicht, sondern investieren nachhaltig in das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Quellen / weiterführende Literatur:
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