Finanzentscheidungen sind selten rein rational. Wie Psychologie unser Anlageverhalten beeinflusst und wie wir klüger investieren können.

Viele Entscheidungen im Alltag treffen wir weniger rational, als wir oft denken. Gerade bei der Geldanlage können Intuition und ein vermeintlich gutes Bauchgefühl in die Irre führen. Anlagestrategien erfordern eine intensive Auseinandersetzung. Wer versteht, auf welcher Grundlage er Entscheidungen trifft, kann bewusster und rationaler handeln.

Die Finanzpsychologie spricht hier von sogenannten Heuristiken (gedanklichen Abkürzungen) und Urteilsfehlern (Bias), die unser Verhalten beeinflussen. So führt der so genannte Home Bias dazu, dass Wertpapiere aus dem eigenen Land bevorzugt werden, was die Risikostreuung verschlechtert. Der Autoritätsbias wiederum führte in den 2000er Jahren dazu, dass viele Menschen auf Expertenempfehlung hin Telekomaktien kauften und hohe Verluste erlitten. Trotz solcher Erfahrungen investieren heute immer mehr Privatanleger in Aktien, Fonds und ETFs – etwa jeder Sechste über 14 Jahren ist an der Börse aktiv. Trading-Apps erleichtern den Einstieg zusätzlich. Warum finanzpsychologisches Wissen für AnlegerInnen so wichtig ist, darüber sprechen wir mit der Psychologin Julia Thiele, die sich auf die Psychologie des Finanzhandels spezialisiert hat.

Wie wichtig ist es, sich psychologische Faktoren am Kapitalmarkt bewusst zu machen?

Börsenpsychologische Studien zeigen: 80 bis 90 Prozent des Handelserfolgs hängen von psychologischen Faktoren ab. Viele sprechen von „Psychologie“, wenn sie die Entwicklung ihres Depots erklären oder Unsicherheiten vor Entscheidungen beschreiben. Tatsächlich ist die größte Herausforderung beim Investieren der Umgang mit den eigenen Emotionen und Denkmustern.

Julia Thiele


Anlageentscheidungen basieren auf mentalen Prozessen, die anfällig für psychologische Einflüsse sind.


Anlageentscheidungen basieren auf mentalen Prozessen, die anfällig für psychologische Einflüsse sind. Ein Beispiel: Viele AnlegerInnen kaufen zu früh und zu teuer oder verkaufen zu spät und zu günstig. Oft verhindern psychologische Effekte wie der Ankereffekt (Festhalten an einem bestimmten Preis) oder Affekthandlungen eine optimale Entscheidung. Auch wenn der perfekte Kauf- oder Verkaufszeitpunkt kaum vorhersehbar ist, können wir an den Ursachen für Fehleinschätzungen ansetzen.

Um nicht an irrationalen Kaufpreisen festzuhalten, ist es hilfreich, die eigenen Referenzwerte regelmäßig zu überprüfen und neu zu kalibrieren. Das Bewusstsein für interne (Emotionen, Denkmuster) und externe Einflüsse (z.B. mediale Hypes) ist entscheidend für den Anlageerfolg. Insbesondere qualitative Analysestrategien sind anfällig für psychologische Verzerrungen, aber auch bei der technischen Analyse können kognitive Fehler auftreten.

Inwiefern beeinflussen Emotionen und soziale Faktoren unser Handeln?

Emotionen und soziale Einflüsse spielen bei Investitionsentscheidungen eine zentrale Rolle. Angst führt oft zu übervorsichtigem Verhalten, Euphorie zu übermäßigem Risiko. Auch Medien, Trends und das Verhalten anderer beeinflussen uns unbewusst. Wer sich dessen nicht bewusst ist, läuft Gefahr, impulsiv zu handeln und Verluste zu riskieren. Vor allem bei häufigen Depotkontrollen oder Push-Benachrichtigungen von Trading-Apps steigt die Gefahr, emotional statt rational zu entscheiden.

Geldanlage ist mehr als Mathematik: Auch Gefühle, Wünsche und psychologische Faktoren beeinflussen unser Sparverhalten.

Welche Rolle spielen Persönlichkeitsmerkmale bei Finanzentscheidungen?

Persönliche Einstellungen zu Anlageformen werden durch eigene Erfahrungen und Prägungen – etwa durch Krisen oder die Familie – beeinflusst (sog. transgenerationaler Effekt). Diese spiegeln sich in Eigenschaften wie Mut, Optimismus oder Vorsicht wider. Wer seine eigene Anlagebiografie reflektiert, erkennt oft, welche Filter und Denkmuster die Entscheidungen prägen.

Die Börse ist ein Spiegel persönlicher Eigenschaften: Sie erfordert einen konstruktiven Umgang mit Unsicherheit und Kontrollverlust sowie Frustrationstoleranz. Lernbereitschaft und Disziplin sind hilfreich. Die individuelle Risikobereitschaft ist so wichtig, dass sie in jedem Beratungsgespräch abgefragt wird. Studien zeigen, dass Geduld und die Fähigkeit, Belohnungen aufzuschieben, die Wahl der Anlageinstrumente beeinflussen. An der Börse gibt es keine Rendite ohne Risiko und zumindest vorübergehende Verluste. Wer psychologische Risiken minimiert, erhöht seine Erfolgschancen.

Wie wichtig ist ein gutes Stressmanagement beim Investieren?

Emotionaler Stress verändert unser Entscheidungsverhalten. Unter Stress übernimmt das Emotionszentrum (Amygdala) die Kontrolle, rationale Entscheidungen werden schwieriger. Angst erhöht die Vorsicht, Euphorie die Risikobereitschaft. Stress kann die Merkfähigkeit senken und zu irrationalen Argumentationsketten führen – viele AnlegerInnen schlafen deshalb schlechter.
Ideal ist eine mittlere Anspannung, bei der Konzentration und Leistungsfähigkeit am höchsten sind. Wer seine persönlichen Stressauslöser kennt und sich akzeptable Verlustgrenzen setzt, kann viele Fehler vermeiden. Techniken zur Stressbewältigung helfen, auch bei Kursschwankungen ruhig zu bleiben. Gerade in den ersten Jahren an der Börse lässt sich Stress kaum vermeiden – aber Stressresistenz ist trainierbar und sollte individuell auf die eigenen Auslöser abgestimmt werden.

Wie reagiere ich am besten auf Kursschwankungen?

Zunächst ist zu prüfen, ob überhaupt Handlungsbedarf besteht. Wenn ja, sollten Entscheidungen auf der Grundlage strategischer und zahlenbasierter Analysen getroffen werden, nicht auf der Grundlage von Hoffnung oder Intuition. Aktionismus und Panikreaktionen erhöhen das Verlustrisiko. Je mehr Wissen und Erfahrung vorhanden ist, desto größer wird die Sicherheit und Gelassenheit. Es hilft, Routinen zu entwickeln: Zum Beispiel das Depot nur zu festen Zeiten zu überprüfen, statt sich täglich in Stress zu versetzen. Die richtige Strategie hängt auch davon ab, ob man von Volatilität profitieren will oder nicht. Wer die psychologischen Marktmechanismen kennt, kann bewusster entscheiden, wann Kaufen, Verkaufen oder Halten sinnvoll ist.

Gibt es ein Erfolgsrezept für AnlegerInnen?

Psychologisch entscheidend sind Interesse, Neugier und Ausdauer. Wer sich regelmäßig mit Finanzthemen beschäftigt und die richtigen Rahmenbedingungen schafft, investiert erfolgreicher. Freude am Erfolg, Dankbarkeit und die Fähigkeit, Fehler zu reflektieren, stärken die Resilienz. Komplexität zu reduzieren und ein gutes Emotions- und Selbstmanagement zu entwickeln, schützt vor irrationalem „System 1“-Denken (schnelles, intuitives Denken nach Kahneman und Tversky).

Das Erfolgsrezept muss zur eigenen Persönlichkeit passen: Manche profitieren von mehr Mut und Selbstvertrauen, andere von mehr Geduld und Gelassenheit. Der Austausch mit einer unterstützenden Gemeinschaft kann ebenso helfen wie die Konzentration auf die eigenen Ziele. Es lohnt sich, regelmäßig zu reflektieren, welche Denkmuster (Heuristiken) zu wiederholten Fehlern führen und welche kognitiven Verzerrungen (z.B. Selbstzuschreibungsverzerrung, Status-Quo-Verzerrung) im Weg stehen. Wer seine „Bias Blindness“ (Unfähigkeit, eigene Denkfehler zu erkennen) überwindet, kann sich kontinuierlich verbessern.

Kahneman & Tversky – “System 1”- und “System 2”-Denken

Der Psychologe Daniel Kahneman und sein Forschungspartner Amos Tversky haben mit ihrer Arbeit das Verständnis menschlicher Entscheidungsfindung revolutioniert. Sie unterscheiden zwei Denksysteme:

  • System 1 steht für das schnelle, automatische und intuitive Denken. Es arbeitet unbewusst, ist immer aktiv und ermöglicht uns, blitzschnell auf Situationen zu reagieren – oft mithilfe von Erfahrungswerten und Mustern. System 1 ist effizient, aber anfällig für Fehler und kognitive Verzerrungen.
  • System 2 beschreibt das langsame, bewusste und analytische Denken. Es wird aktiviert, wenn wir komplexe Probleme lösen, logisch abwägen oder uns auf neue Situationen einstellen müssen. System 2 erfordert Konzentration und Energie, ist aber weniger fehleranfällig.

Im Alltag treffen wir die meisten Entscheidungen mit System 1. Für wichtige oder schwierige Fragen sollten wir jedoch bewusst System 2 einschalten, um typische Denkfehler zu vermeiden.

Ab wann lohnt es sich, psychologische Skills für den Kapitalmarkt zu entwickeln?

Je früher, desto besser. Wer von Anfang an mentale Strategien für rationale Entscheidungen entwickelt, vermeidet typische Fehler wie die emotionale Bindung an einzelne Wertpapiere. Nach Verlusten handeln viele nicht mehr so unbefangen, denn negative Erfahrungen hinterlassen Spuren. Eine psychologische Grundausstattung erspart „Lehrgeld“ durch vermeidbare Fehler. Es ist einfacher, von Anfang an die richtigen Denkmuster zu etablieren, als sie später zu ändern. Psychologische Kompetenz erfordert keine Vorkenntnisse, sondern vor allem die Bereitschaft zur Reflexion und Weiterentwicklung.

Welche Risiken bergen Trading-Apps aus Sicht der Finanzpsychologie?

Trading-Apps senken die Hemmschwelle zum Handeln und erhöhen die Handelsfrequenz. Häufige Kontrollen erhöhen die Verlustaversion und verleiten zu impulsiven Entscheidungen. Push-Benachrichtigungen fördern kurzfristiges Denken. Ein bewusster Umgang mit technischen Einstellungen – wie das Deaktivieren von Benachrichtigungen oder das Festlegen von Handelsregeln – kann helfen, Fehlentscheidungen zu vermeiden. Automatisierte Tools und Algorithmen können unterstützen, wenn man ihnen vertraut und die eigenen Entscheidungskriterien konsequent beachtet.

Zum Schluss: Ihr Tipp für Anlageinteressierte in einem Satz?

Sie können die Entwicklung der Finanzmärkte nicht beeinflussen, aber Sie können Ihre eigenen psychologischen Einflüsse auf Ihre Finanzentscheidungen steuern. Selbsterkenntnis und gezielte Strategien im Umgang mit der eigenen Finanzpsychologie zahlen sich aus, nicht zuletzt durch den persönlichen Gewinn an Entwicklung und Erfahrung.

Vielen Dank Frau Thiele!

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