Trauma: Zur Karriere eines Konzepts

„Während ‚Trauma‘ ursprünglich sehr präzise als Durchbruch des Reizschutzes definiert war, lesen wir heute von kumulativen, Belastungs-, retrospektiven und Decktraumen, so dass es immer schwieriger wird, zwischen schädlichen, pathogenen Einflüssen im Allgemeinen und Trauma im Besonderen zu unterscheiden.“ Diese Worte sprach Anna Freud im Jahr 1964 während ihrer Eröffnungsrede zu einem Trauma- Symposium (Freud, 1964/1967, S. 1819f). Die Diskussion rund um den Begriff „Trauma“ ist keine neue.

Traumatisierungen der Kindheit

Studien aus den 1980er- und 1990er-Jahren belegen eine Korrelation zwischen behandlungsbedürftigen Störungen im Erwachsenenalter und Traumatisierungen in der Kindheit. Das erhebliche Schädigungspotential von Vernachlässigung und konstanter emotionaler Invalidierung wird durch eine Vielzahl neurobiologischer Befunde bestätigt. Diese belegen, welch große Schäden seelische Verletzungen durch Bezugspersonen im Gehirn des Kindes hinterlassen. Auf der neurobiologischen Ebene sind derartige frühe Schädigungen bis ins Erwachsenenalter nachweisbar (Schore, 2001; Irle, Lange & Sachsse, 2005).

Viele und immer neue Begriffe

Bereits im Jahr 1976 veröffentlichte die amerikanische Traumaforscherin Judith Herman ein für die Behandlungstrauma induzierter Störungsbilder wegweisendes Buch mit dem deutschen Titel „Die Narben der Gewalt“. Sie schlug die Bezeichnung „komplexe Posttraumatische Belastungsstörung kPTBS“ (Herman, 1992) für ein charakteristisches Syndrom nach chronischen Traumatisierungen vor: Störungen der Affektregulation, dissoziative Symptome, Störungen der Selbstwahrnehmung, Störungen der Sexualität und Beziehungsgestaltung, somatoforme Körperbeschwerden, Veränderungen persönlicher Glaubens- und Wertvorstellungen (Sack, 2004; Boroske-Leiner, Hofmann & Sack, 2008; Sack, Sachsse & Bulz, 2011). Die Kriterien dieses Syndroms weisen viele Überschneidungen zu konkurrierenden Konzepten auf, wie etwa zur Borderline-Persönlichkeitsstörung (Sack et al., 2011), zur dependenten oder schizoiden Persönlichkeitsstörung, zur narzisstischen oder somatoformen Störung. Die Begriffe „Relational Trauma“ oder „Attachment Trauma“ (Schore, 2001) und die „Unresolved Traumata“ der Bindungsforschung (Buchheim, 2011) haben eine lange Tradition. Inzwischen gibt es auch den Begriff des „Beziehungstraumas“, etwa für Mobbing oder sehr belastende Partnerschaften, sowie den Begriff der „Entwicklungstraumastörung“ (Streeck-Fischer, 2012), der für komplexe traumatisierende Einflüsse, besonders in der Adoleszenz, Anwendung findet. Nicht zu vergessen die „Posttraumatische Verbitterungsstörung“ (Linden, 2007).

Für und Wider der Ausweitung des Begriffs

Zweifelsfrei ist das Trauma-Konzept ein Erfolgs-Konzept. Die explizite Ausweitung des Trauma-Begriffs, zum Beispiel auch auf lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs, ist für die konkrete psychotherapeutische Arbeit und die Entwicklung neuer therapeutischer Konzepte sehr hilfreich (Boss, 2008; Diegelmann, 2007; Diegelmann & Isermann, 2016; Reddemann 2011).

Durch die Ausweitung ist der Begriff „Trauma“ aber auch kaum noch operationalisierbar und fast beliebig. Er wird zu einem Synonym für Erfahrungen, die völlig unverarbeitet sind, nicht zu bewältigen, nicht integrierbar, besonders schlimm bzw. leidvoll. Die Scheidung der Eltern kann für ein Kind sehr belastend sein, aber auch sehr befreiend. Eine Scheidung ist somit nicht per se ein Trauma.

Mehr begriffliche Klarheit

Hinzu kommt der alltägliche Gebrauch des Begriffs, etwa wenn das verlorene Spiel einer Fußballmannschaft als „Trauma“ in den Schlagzeilen erscheint. Schultz-Venrath und Freese (2011) stellten in diesem Zusammenhang die Frage: „Trauma auf dem Weg zur Modediagnose?“. Rudolf (2012) schildert eine weit verbreitete „Traumafaszination“ und aus verhaltenstherapeutischer Sicht beklagt Linden (2011) die „Traumaschwemme“. Es kann nur hilfreich sein zu versuchen, in Zukunft mehr Klarheit in ein inzwischen fast unübersichtlich gewordenes Feld zu bringen.

Christa Diegelmann, Kassel Margarete Isermann, Kassel Prof. Dr. Ulrich Sachsse, Göttingen

Die Autoren leiten bei der Deutschen Psychologen Akademie das Curriculum Psychotraumatherapie mit EMDR.