Verändert Corona nun auch die Psychotherapie?

Ein Beitrag von Agnes Justen-Horsten

Eine bis dato ungeahnte Begleiterscheinung der Online-Therapie hat in Corona-Zeiten zu einem Boom von Video-, Telefon-und Mailberatung und -therapie geführt: medial-vermittelter Kontakt birgt keine Ansteckungsgefahr. Deshalb haben inzwischen die meisten Psychotherapeuten Erfahrungen damit gemacht und kennen sich mit den Regularien zur Nutzung und mit den Vor-und Nachteilendes Mediums Internet für die Psychotherapie aus. Eine Umfrage des DPtVs ergab, dass bisher 77% der Therapeuten während der Corona-Krise Video nutzen, davon 95% zum ersten Mal. Wie beurteilen Psychotherapeuten die Eignung von Videokommunikation für psychotherapeutische Zwecke? Die meisten der Befragten halten nach wie voreine kopräsente Psychotherapie für den Goldstandard. Neue Erfahrungen mit den vielen rasant schnell entwickelten Videokommunikationssystemen im Internet haben aber auch viele Kolleginnen auf deren Nutzung neugierig gemacht. Zu dem Ergebnis kommt eine Mitglieder-Befragung der Berliner Psychotherapeutenkammer. Erfahrungen, die den Kollegen die Umsetzung von Psychotherapie auf das Medium Videokommunikation erschweren, sind:
  • In Video-gestütztenTherapien können Emotionen des Klientenaufgrund der „Kanalreduktion“ nicht ausreichend wahrgenommen werden. Mit Kanalreduktion ist gemeint: Zweidimensionalität und Ausschnitthaftigkeit des Videobildes, Mimik und Gestik sind nur begrenzt wahrnehmbar, Körperkontakt und mit allen Sinnen erfassbare Wahrnehmung des Klienten ist nicht möglich, Ansehen ohne direkten Blickkontakt. (Erschwerter Zugang zu den Emotionen)
  • Eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung ist wegen der indirekten, medialen Vermittlung schwierig. Auch Unterbrechungen aufgrund technischer Störungen sind für die Beziehungsgestaltung hinderlich. (Beeinträchtigungen der Beziehungsgestaltung)-Video-Therapie ist anstrengend. (Konzentrative Belastung)
Das sind sehr ernstzunehmende, miteinander in Beziehung stehende Argumente, die für alle therapeutischen Schulen Relevanz haben. Inzwischen ist der Erfolg von Video-gestützter Psychotherapie belegt, sie ist im EBM angekommen und Therapeuten, die ihr Angebot um Videotherapie erweitern wollen, wird interessieren, wie sie mit diesen Erschwernissen konstruktiv umgehen können.

Was braucht also ein Therapeut, der Online-Therapie per Video anbieten möchte?

  • Eine eigene Motivation, sich mit dem Medium Videokommunikation zu beschäftigen
  • Eine angemessene Vertrautheit mit Internet und Technik-Interesse am sprachlichen Ausdruck und den Feinheiten verbaler Kommunikation, denn über das Wort wird digital –im Vergleich zu der analogen Kommunikation – noch mehr als nur Information transportiert
  • Freude am fragenden Entdecken, insbesondere was nonverbale und emotionale Aspekte der Kommunikation anbelangt („Gerade, als wir über Ihre Zweifel gesprochen haben, fiel mir auf, dass Sie in eine andere Richtung geschaut haben. Hat das etwas zu bedeuten?“)
  • Interesse an der Umsetzung von therapeutischen Techniken auf das Medium Videokommunikation (Rollenspiel, Genogramm, Nutzung von Flipcharts, Stühlearbeit, Exposition). Hier gibt es bereits einige Tools, die man ausprobieren könnte.
  • Patienten, die auch internetaffin sind, z. B. bereits imVideokontakt mit Freunden/Familie/Kollegen stehen und für die deshalb online zu kommunizieren alltäglich ist.

Wie nutzt man Online-Kommunikation so, dass die oben genannten Erschwernisse umgangen oder geringgehalten werden können?

Blended-Formate erleichtern die Vertrautheit mit dem emotionalen Ausdruck unserer Klienten. Wenn die ersten Kontakte zu Indikationsstellung und Diagnostik face-to-face erfolgen, hat man schon ein erstes Verständnis der Ausdrucksformen seiner Emotionalität gewonnen und kann diese Erfahrung auf Video-Gespräche übertragen. Nach einer Reihe von Online-Gesprächen kann man in face-to-face Sitzungen diese Erfahrung immer wieder auffrischen und erweitern und damit die therapeutische Beziehung stärken. Es macht dann Sinn, nach den wahrgenommenen Unterschieden der beiden Settings zu fragen und dabei auch die Emotionalitätanzusprechen (z.B. ist man zurückhaltender oder offener im Videokontakt?). Es spricht einiges dafür, dass der exklusive, nur auf das Abbild zweier Personen begrenzte Raum auf dem Bildschirm Offenheit erleichtert. Wir Therapeuten sollten uns auf dem Bildschirm so zeigen, dass nicht nur unser Kopf, sondern auch unsere Schultern, Arme und Hände sichtbar werden und auch unsere Klienten bitten, sich auf diese Art vor dem Bildschirm zu platzieren. So kann man auch gestisch und mimisch miteinander kommunizieren. Die Videokommunikationssysteme bieten verschiedene Ansichten auf die Gesprächspartner, die sich zu einer Therapiesitzung verabredet haben. Manche zeigen das Gegenüber groß und sich selbst oben im Bild als kleine Kachel. Einige zeigen die beiden Gesprächspartner gleich groß nebeneinander. Keine dieser Darstellungsoptionen entspricht dem, was der Therapeut im Face-to-Face-Gespräch sieht. Das hat auch Vorteile, denn er sieht anderes und mehr. Wenn der Therapeut auch seinen eigenen mimischen Ausdruck im Bild verfolgen kann und wenn das nicht als ablenkend und irritierend wahrgenommen wird (dann wahrscheinlich, wenn man mit Videokommunikation beginnt), bietet diese Selbstwahrnehmung die seltene Möglichkeit, den eigenen Ausdruck zu reflektieren und als Anlass zu Veränderungen und Adaptation an den Ausdruck des Klienten einzusetzen. Das erfordert unbestritten viel Konzentration, bietet aber erstaunliche Möglichkeiten für die Entwicklung vontherapeutischerFeinfühligkeit.

Was sind die Vorteile und Nachteile der Onlinetherapie für Klienten?

Klientinnenkönnen in ihrem vertrauten Umfeld bleiben. Das ermöglicht Ihnen u. U. sich leichter zu öffnenund erspart ihnen Wege und Zeit. Wenn sie in unterversorgten, genauso überversorgten Regionen mit langen Wartezeiten oder dem Ausland leben, erleichtertes ihnen den Zugang zu Psychotherapie. Patienten, die aufgrund von Krankheit, einer Behinderung oder Alter in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, können vorübergehend oder aber auch auf Dauer digital Psychotherapie in Anspruch nehmen. Kolleginnen, die z.B. mit Menschen mit Krebserkrankungen arbeiten, wird eine therapeutische Begleitung während langer Krankheitsphasen möglich. Keinen Zugang zu Online-Angeboten haben Menschen, die sich weder Smartphone, Tablet oder Laptop leisten können oder in beengten Wohnsituationen leben, wo ein Therapiegespräch nicht ungestört geführt werden kann.

Was sind die Vorteile und Nachteile der Onlinetherapie für Therapeuten?

Im psychotherapeutischen Alltag entstehen organisatorische Nachteile dadurch, dass selbst wenn die Technik ihren festen Platz in der Praxis hat, das Umschalten von face-to-face auf Video und umgekehrt auch aufgrund der konzentrativen Belastung Zeit und Pausen braucht. Was bei der Videokommunikation fehlt, ist, dass man den Patienten im Warteraum schon erlebt und so einen langsamen Einstieg in die Sitzung wählen kann. Im Video sind beide, Therapeutinund Klientauf Knopfdruck da. Vorteile für Psychotherapeuten sind, dass sie auf die Bedürfnisse bestimmter Klientengruppen eingehen und sich damit eine eigene Klientel entwickeln können, die ausschließlich face-to-face arbeitende Kollegennicht erreichen. Die Anzahl dieser Klienten wächst mit der Zunahme von Digitalisierung und Mobilität. In Zeiten der räumlichen Abwesenheit von Klienten oder nach einem Umzug kann eine Therapie fortgeführt werden. Jede Face-to-Face-Therapie kann durch digitale Elemente ergänzt und intensiviert werden, z. B. durch Therapietools, die dem Patienten digital zur Verfügung gestellt werden, durch Übersendung von Fragebögen oder Beobachtungsaufgaben per datensicherer Mail oder durch Videositzungen dorthin, wo der Klientgerade vor einer für ihn schwer zu bewältigenden Aufgabe steht. Nach Corona wird nicht gleich nur noch online therapiert, das ist auch gut so. Aber unser therapeutisches Angebot wird um eine sinnvolle Anwendung erweitert.