Körper und Sexualität sind scheinbar allgegenwärtig, kommerzialisiert wie stilisiert. Dennoch fällt vielen Menschen der Umgang mit Beziehungs- und sexuellen Bedürfnissen nicht leicht, liegen Sprachbarrieren und Tabus in der Luft. Trotz Emanzipation und sexueller Liberalisierung beobachten wir geradezu einen „roll-back“ in neuer Sehnsucht nach sexueller Identität und Intimität jenseits von Unisex und sexueller Freizügigkeit. Dabei scheint für viele Menschen der Übergang von der Alltags- in die eigene erotische Welt schwierig. Sexualität wird instrumentalisiert, suchtartig übersteigert oder unter Schmerzen vermieden. Lust kommt zunehmend nicht nur Frauen abhanden, Sinnlichkeit nicht nur bei Männern zu kurz. Wenn die Regulation menschlicher Grundbedürfnisse nach Nähe und Sicherheit, Wertschätzung und Attraktivität in überfrachteten und überfordernden, vernachlässigten oder schlicht nicht vorhandenen Beziehungen nicht funktioniert, bleiben Erregung und Begeisterung, Genuss und Freude an der Sexualität auf der Strecke.
Funktionsstörungen weit verbreitet
Fast die Hälfte aller Männer und Frauen geben an, über einen längeren Zeitraum sexuelle Probleme gehabt zu haben: Sexuelle Funktionsstörungen betreffen alle Altersgruppen sowie Männer und Frauen gleichermaßen. Oft bleiben sie unerkannt und werden nicht behandelt, obwohl hohe Komorbiditäten mit körperlichen Erkrankungen, etwa aus Kardiologie, Orthopädie und Urogynäkologie, vorliegen. Die medizinische Behandlung der Grunderkrankung führt bei Weitem nicht immer zu einem Verschwinden der sexuellen Symptomatik. Manchmal sind sexuelle Probleme sogar Neben- oder Nachwirkungen notwendiger pharmakologischer oder operativer Behandlungen. Im klassisch psycho-somatischen oder verhaltensmedizinischen Sinne können sexuelle Schwierigkeiten andere Erkrankungen hervorrufen, beispielsweise bei unerfülltem Kinderwunsch.
Auch im Bereich der psychischen Erkrankungen sind die Komorbiditätsraten sehr hoch, etwa bei Angst- und Traumafolgestörungen, Somatisierungs- und somatoformen Störungen, bei Essstörungen oder Drogenabusus. Mindestens jeder zweite Depressive weist eine sexuelle Dysfunktion auf. Aber auch für Psychotherapie und psychosoziale Beratung gilt, dass sich sexuelle Symptome nicht automatisch zusammen mit der psychischen Problematik verbessern (Hoyer, 2013).
Für einen aktiveren Umgang mit dem Thema
Dennoch stellen viele Psychotherapeuten eine sexuelle Symptomatik nicht direkt in den Behandlungsfokus. Dazu befragte Therapeuten gaben an, sich sexualtherapeutisch nicht kompetent genug zu fühlen oder sexuellen Symptomen eine eher geringe Bedeutung für die anstehende psychotherapeutische Behandlung beizumessen (Reineke et al., 2006). Zudem sprechen nur rund 25 Prozent der Patienten, die sich in ambulante Therapie begeben, von sich aus Probleme mit ihrer Sexualität an. Psychologen, Berater und Psychotherapeuten sind gefragt und gefordert, aktiver und direkter mit dem Thema „Sexualität“ umzugehen und Patienten ein kompetentes und vertrauenswürdiges Gegenüber zu sein.
Eine sexuelle Symptomatik ist immer auch Ausdruck einer ungünstigen Paardynamik und -interaktion, wenn die befriedigende Regulation von Emotionen und Bedürfnissen zwischen den Partnern nicht (mehr) gelingt. Moderne Sexualtherapie nach einem bio-psycho-sozial integrativen Ansatz setzt daher nicht nur direkt störungsorientiert an, sondern auch störungsübergreifend, das heißt möglichst paartherapeutisch (Hartmann, 2017). Sexuelle Gesundheit ist kein Luxus, sie ist eng verbunden mit Lebensqualität, Liebe und gelingender Partnerschaft.
Monika und Norbert Christoff, Hannover
Die Autoren leiten bei der Deutschen Psychologen Akademie das Curriculum Sexualtherapeutische Basiskompetenzen, das sich umfasend mit der praxisorientierten Vermittlung von sexual- und paartherapeutischen Basiskompetenzen beschäftigt.